Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen
(1098-1179)

Geistliche Musik des 12. Jahrhunderts

Das Klosterleben im Mittelalter unterlag einer strengen Symmetrie, die den mönchischen Tag, die Woche und das Jahr nach einer klar gegliederten Ordnung regelte. Das Singen von Psalmen spielte dabei eine zentrale Rolle. Auf die verschiedenen Stundengebete verteilt, wurden jede Woche sämtliche 150 Psalmen Davids gesungen. Sie stellen somit den "Urgrund" des mittelalterlichen Chorgesangs dar.

»Beim Psalmensingen«, so der heilige Benedikt, »befinden wir uns im Angesicht der göttlichen Herrlichkeit und ihrer Engel.« Durch den Chorgesang erhebt sich der ganze Mensch mit Leib, Geist und Seele zur Erleuchtung. Er wird erfasst von jenem stupor, jener admiratio, von der der Zisterzienser Baudoin de Ford im 12. Jahrhundert spricht, von dem erstarrten Staunen über den ewigen Glanz. Die monastische Welt sucht ihren Glauben nicht zu begründen; statt dessen bemüht sie sich, ihn durch die kollektive Verzückung anzuregen, die die Teilnehmer des Gottesdienstes erfüllt. Sie kümmert sich weder um Ursachen noch um Wirkungen und Beweise, sondern um die Kommunikation mit dem Unsichtbaren, und kein Weg scheint ihr kürzer als die Erfahrung des liturgischen Chors.

Hildegard von Bingen, dieser eigenwilligen und selbstbewussten Äbtissin des 12. Jahrhunderts genügte der begrenzte Tonumfang des gregorianischen Chorals nicht mehr. Angeregt von ihren Visionen, die sie in umfangreichen Codices aufschreiben ließ, erfand sie eine große Zahl von neuen geistlichen Liedern für den Gottesdienst in ihrem Kloster, Lieder, die sowohl im Umfang als auch in der Melodieführung die Grenzen des damals üblichen deutlich überschreiten, Lieder, die von uns aber in erster Linie "als charismatisch-prophetische Aussagen aufgenommen werden sollten". (Barth/Ritscher)

Denn ebenso wenig wie Hildegard in ihren zahlreichen Schriften ihren Glauben intellektuell zu begründen suchte, lassen sich ihre Gesänge bis heute mit Hilfe eines analytischen Verstandes ganz erfassen. Ihre ganze Schönheit und Großartigkeit erschließen sich vielmehr nur dem mit starker emotionaler Inbrunst Nach-Spürenden.
 

Heinz Schwamm