Von der Burg in die Stadt
Von der Burg in die Stadt
Deutsche Lieder des 13. - 15. Jahrhunderts
Während das Publikum der deutschen Minnesänger des 13. und 14. Jhs. in erster
Linie an den verschiedenen großen und kleineren Höfen und wohl auch in Klöstern
zu finden war, übernahm im Laufe des 15. Jahrhunderts das Bürgertum in den
aufstrebenden deutschen Städten die Pflege von Literatur und Musik vom Adel. So
traten neben Kaisern, Königen und Landesfürsten jetzt auch reiche Bürger als
Gönner, Auftraggeber und Publikum für reisende Berufssänger auf, das "deutsche
Lied" wanderte sozusagen "von der Burg in die Stadt". Gleichzeitig entstanden in
bürgerlichen Kreisen eine Reihe von "Liederbüchern", deren vielfältiger Inhalt
vom Geschmack des jeweiligen Sammlers bestimmt war.
Eine bekannte Liedersammlung des 15. Jahrhunderts ist das "Lochamer Liederbuch".
Es wurde bis ca. 1455 von Frater Judocus von Windsheim zusammengestellt ,
gehörte um 1500 dem Nürnberger Patrizier Wolflein von Lochamer, und befindet
sich heute in der Berliner Staatsbibliothek. Es enthält größtenteils anomym
überlieferte Liebeslieder und drei lateinische Kontrafakturen weltlicher Stücke.
"Das "Rostocker Liederbuch" ist eine Sammlung, die zwischen 1465 und 1487 an der
1419 gegründeten Rostocker Universität zusammengestellt wurde und heute in der
dortigen Universitätsbibliothek aufbewahrt wird. Es spiegelt das Repertoire, das
wohl in bürgerlich-studentischen Kreisen dieser Zeit geläufig war: lateinische
und deutsche, geistliche und weltliche, moralische und unmoralische Texte,
Liebeslyrik und Vagantendichtung sind hier vereint in 51 Liedern (dazu 30
Melodien) und verschiedenen Spruchdichtungen."
(B.Schwendowius)
Hartmann Schedel (1440-1514), Nürnberger Arzt und Humanist, berühmt als
Verfasser der "Weltchronik" (erschienen 1493), hinterließ eine bedeutende
Bibliothek, die er sich seit seinen Studienjahren in Leipzig (1456-61) und Padua
(1463-66) durch Kopieren und Sammeln von Handschriften erworben hatte. Für die
Musikgeschichte von Bedeutung ist sein "Liber musicalis" (so die eigenhändige
Aufschrift), dessen Hauptschreiber und erster Besitzer Schedel war. Es enthält
127 zwei- bis vierstimmige Lieder, die jedoch häufig nicht textiert sind und 23
Lieder ohne Melodien. Angelegt wurde die Sammlung von Schedel zwischen 1459 und
1467 in Leipzig, Nürnberg und Augsburg. Das "Schedelsche Liederbuch" wird heute
in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt.
Neben einer Auswahl aus diesen "Liederbüchern" des 15. Jhs. hören Sie in unserem
ersten Programmteil Lieder von Neidhart von Reuental (ca.1180-ca.1240), Oswald
von Wolkenstein (1377-1445) und dem "Mönch von Salzburg" (14. Jh.)
- drei herausragende Dichtermusiker des späten Mittelalters aus dem süddeutschen
Sprachbereich, drei gänzlich verschiedene Lebenswege, drei gänzlich verschiedene
Lebenswerke, und doch faszinierend und packend bis heute die Lieder von allen
dreien.
Oswald von Wolkenstein, der fahrende Ritter, Politiker und Diplomat gilt heute
als der deutschsprachige Lieder-Autor des späten Mittelalters. Was seine
Biographie angeht, ist er eine der bestdokumentierten Persönlichkeiten des
Mittelalters überhaupt. Neben seinen Liedern sind eine ganze Fülle von
Dokumenten über seinen Lebensweg und seinen politischen Werdegang auf uns
gekommen. Er hat so gut wie alle Möglichkeiten der damaligen Lyrik ausprobiert
und weiterentwickelt, teilweise mit sehr starkem autobiographischen Bezug. Auch
musikalisch ist sein Werk von größter Vielfalt und höchster Qualität.
Die Lieder des "Mönch von Salzburg" gehören zu den am weitest verbreiteten des
gesamten Mittelalters. Die ihm zugeschriebenen 49 geistlichen und 56 weltlichen
Lieder sind in über 100 Handschriften überliefert. Die Autorenbezeichnung münch
ist in Handschriften seit Beginn des 15.
Jahrhunderts belegt. Welche historische Persönlichkeit sich hinter diesem
"Pseudonym" verbirgt, ist bis heute ungeklärt, doch deuten einige sichere
Hinweise auf den Salzburger Erzbischof Pilgrim II. (Regierungszeit: 1365-1396).
Seine Lieder zeichnen sich durch eine große thematische Vielfalt, sprachliche
Virtuosität und musikalische Originalität aus. Es finden sich neben
Tageliedparodien, derben Freß- und Saufliedern und "Klafferschelten" vor allem
Liebeslieder, die eine erstaunliche Variationsbreite in Motiven und
Gefühlsausdruck zeigen.
Auch über Neidharts Leben ist wenig bekannt. Geboren in Bayern am Ende des 12.
Jahrhunderts, zog er als fahrender Sänger durchs Land, nahm vielleicht an einem
Kreuzzug teil und starb gegen 1240 in Mödling bei Wien. Eines lässt sich
freilich sagen: Neidhart und seine Lieder waren ungeheuer populär und beliebt.
In 22 Handschriften sind über 200 Texte und 55 Melodien überliefert, die von ihm
oder von Nachahmern à la Neidhart gesungen worden sind. Diese Oeuvre wird in der
Forschung einfach aufgeteilt - in Sommerlieder und Winterlieder, Lieder zum Tanz
auf dem Anger und Lieder zum Tanz in der Stube. Und wirklich beginnen auch die
meisten seiner Lieder mit einem sog. "Natureingang", etwa "Wie schön, dass der
Mai mit Sonne, Blumen, Gras und den Vögeln wiedergekommen ist!" oder "Wie
schlimm, dass der Winter mit Reif, Schnee und Frost eingekehrt ist!". Doch nach
ein paar Zeilen oder Strophen solcher Konvention folgen im Ton sehr individuell
gehaltene Lieder, virtuos und ausdrucksstark, lustig, aufschneiderisch,
erotisch, obszön, brutal, klagend, nörgelnd, bittend, meist mit sehr
eingängigen, eindringlichen Melodien, die sich bei den zahlreichen
Wiederholungen durch die zahlreichen Strophen hineinbohren ins Ohr, Ohrwürmer
werden.
Und so präsentiert das Programm unseres Konzertes die ganze Fülle hoch- und
spätmittelalterlicher Liedkunst:
Hochdeutsche und niederdeutsche Lieder stehen nebeneinander, Minnelieder,
volkstümliche Lieder, historisch-politische, erotische, aber auch religiöse
Lieder . . .
Heinz Schwamm